“Agiles Projektmanagement … gibt es das?”

14.11.2019

“Ja…”, sagt Prof. Dr. Carsten Schermuly, der in einer wissenschaftlichen Studie gemeinsam mit Rainer Arlt und Christian Geissler die wesentlichen Aspekte identifiziert hat.

Mehr Nutzerorientierung, weniger Zeitmanagement

Wenn in Projekten agil gearbeitet werden soll, sind im Vergleich zur traditionellen Projektarbeit teilweise ganz andere Kompetenzen wichtig. Zu diesem Ergebnis kommt unsere aktuelle wissenschaftliche Studie.

Agilität ist zu einem bekannten Schlagwort in der Steuerung von Organisationen geworden. Viele Organisationen erhoffen sich davon die Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUKA), mit der sie in ihrem wirtschaftlichen Umfeld konfrontiert werden, besser bewältigen zu können. Ursprünglich stammt der Begriff Agilität aus der Software-Entwicklung.

Die Studie „Status Quo Agile“ der Hochschule Koblenz mit über 1.000 Teilnehmern in mehr als 30 Ländern zeigt aber, dass mittlerweile 35 Prozent der Unternehmen agile Methoden auch außerhalb von IT-Aktivitäten einsetzen. Dabei dominiert in 85 Prozent der Fälle Scrum als agile Methode in den Unternehmen, die agile Projektarbeit nutzen. Die agile Projektarbeit hebt sich durch drei Kriterien von der traditionellen Projektarbeit ab:

  1. Bei der agilen Projektarbeit erhält das Team ein hohes Maß an Selbstorganisation und Entscheidungsbefugnissen (Autonomie).
  2. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit von Gleichberechtigung geprägt. Ein klassischer Projektleiter steht dem Team nicht vor. Die Teammitglieder arbeiten auf „Augenhöhe“ zusammen. Bei Methoden wie Scrum übernimmt aber ein Product Owner zum Beispiel die Fortschrittskontrolle und ist für das Product Backlog zuständig. Der Scrum Master kümmert sich dagegen um die Scrum-Regeln und coacht das Team in den Scrum-Methoden.
  3. Zudem ist die agile Projektarbeit von Flexibilität geprägt. Am Anfang der Projektarbeit existieren keine starren Ziele und kein langfristiger Projektplan. Stattdessen werden in kurzen Intervallen, die meist vier Wochen dauern, immer wieder Teilziele definiert, bearbeitet, getestet und das Kunden-Feedback integriert.

Da sich die agile Projektarbeit konzeptionell enorm von der traditionellen unterscheidet, ist deren Einführung ein starker Eingriff in das organisationale System. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche Kompetenzen die Mitarbeitenden benötigen, um erfolgreich agile Projektarbeit zu bewältigen. Aufgrund der hohen Verbreitung von Scrum und der besonderen Position im Team untersuchen wir zusätzlich, welche Kompetenzen ein Scrum Master haben muss. Dazu haben wir eine Expertenbefragung durchgeführt.

Besondere Ausprägung von Nutzerorientierung und Lernbereitschaft

Es wurden jeweils die zehn Kompetenzen ausgewählt, die von den jeweiligen Experten am wichtigsten bewertet wurden. Je höher der Rang einer Kompetenz in den Abbildungen ausfällt, desto wichtiger wurde die Kompetenz eingeschätzt. Nutzerorientierung, Eigenverantwortung, Lernbereitschaft, Flexibilität und Selbstreflexion sind die Kompetenzen, in denen sich agile Projektarbeit besonders von der traditionellen Projektarbeit unterscheidet. In der traditionellen Projektarbeit landen zum Beispiel die Nutzerorientierung erst auf dem 14., die Eigenverantwortung auf dem 11. sowie die Lernbereitschaft auf dem 18. Platz. Bei agiler Arbeit stehen laut Agilem-Manifest die Kundenbeziehung und die Kundenbedürfnisse im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Kunde ist in die Produktentwicklung involviert. Deswegen verwundert es nicht, dass die Nutzerorientierung einen so hohen Stellenwert zugewiesen bekommen hat. Auch die Kompetenz den eigenen persönlichen Handlungsspielraum eigenverantwortlich und verantwortungsbewusst zu nutzen (Eigenverantwortung), lässt sich aus der besonderen Situation agiler Teams erschließen. Durch das iterative Vorgehen aber auch im Rahmen unterschiedlicher Formate erhalten die agilen Projektmitarbeiter Feedback zu ihrer Arbeit. Um das nutzen zu können, ist zum einen Lernbereitschaft, aber auch Flexibilität und Selbstreflexion notwendig.

Zeitmanagement als wichtigste Kompetenz für traditionelle Projektarbeit

Fünf der Kompetenzen aus dem agilen Kompetenzprofil finden sich auch unter den zehn Top-Kompetenzen für traditionelle Projektarbeit wieder (Teamfähigkeit, Zielorientierung, Problemlösekompetenz, Veränderungsfähigkeit und Kundenorientierung). Die laut der Experten wichtigste Kompetenz für traditionelle Projektarbeit ist aber das Zeitmanagement und gehört wie noch vier andere (Komplexitätsbewältigung, systemisches Denken, Konfliktfähigkeit, Kontaktverhalten) zu den Kompetenzen, die stärker für die traditionelle Projektarbeit wichtig zu sein scheinen. Die Prominenz des Zeitmanagements könnte darauf zurückführen, dass im traditionellen Projektmanagement mit langfristigen Meilensteinplänen gearbeitet wird, die geplant und zeitlich eingehalten werden müssen. Vor allem am Ende des Projekts kann es zu einer Verdichtung von Arbeit und besonderen Herausforderungen an das Zeitmanagement kommen, weil das Projekt zu einem festen Zeitpunkt ausläuft und nicht verlängert werden kann.

Wiederum andere Kompetenzen finden sich auf den ersten Plätzen des Profils für Scrum Master. Die drei wichtigsten Kompetenzen sind die Konfliktfähigkeit, die Veränderungsfähigkeit und die Moderationskompetenz. Status-, Rollen-, sowie Inhalts- und Prozesskonflikte können in einem autonomen arbeitenden Team offener und intensiver auftreten.

Da ein Vorgesetzter als Konfliktschlichtungsinstanz nicht existiert, fällt diese Aufgabe dem Scrum Master zu. Der Scrum Master moderiert unter anderem die Retrospektiven und sollte daher auch ausgeprägte Moderationskompetenzen besitzen. Nicht überraschend findet sich die Kundenorientierung (Platz 26) und die Nutzerorientierung (Platz 20) auf den hinteren Plätzen, denn Scrum Master besitzen im Gegensatz zu den Team-Mitgliedern und den Product Ownern keinen intensiven Kundenkontakt während der agilen Projektarbeit.

Mitarbeitende müssen vorbereitet werden

Die meisten Mitarbeitenden haben weder in ihrer Schulkarriere noch in Hochschulen oder im Beruf Erfahrungen mit dem autonomen Arbeiten im Zuge der agilen Projektarbeit gesammelt. Wird im Rahmen der Organisationsentwicklung agile Projektarbeit in einer Organisation eingeführt, dann sollten die zukünftigen Projektmitarbeiter auf die neue Zusammenarbeitsform vorbereitet werden.

Menschen, die bisher traditionell gearbeitet haben, sollten in den relevanten Kompetenzen wie zum Beispiel der Nutzerorientierung, der Eigenverantwortung und der Lernbereitschaft geschult werden. Vor allem die echte und nicht nur pseudohafte Übernahme von Verantwortung fällt manchen Mitarbeitenden schwer und muss geübt werden. Gleichzeitig muss aber auch die Organisation im Change-Prozess den agilen Teams echt und nicht nur pseudohaft Verantwortung übertragen. Agile Projektarbeit funktioniert nur mit ernsthaft ermächtigten Teams. Scrum Master sollten vor allem in den Bereichen Konfliktmanagement und Moderationstechniken weitergebildet werden, damit sie in diesen Bereichen zu optimalen Dienstleistern der agilen Teamarbeit werden können.

Keine extremen Veränderungen nötig 

Im agilen wie im traditionellen Kompetenzprofil ist zu erkennen, dass die Experten überdurchschnittliche Ausprägungen der Dimensionen aber keine Extremwerte empfehlen. Das bedeutet, dass in der Kompetenzentwicklung keine extremen Veränderungen erreicht werden müssen. Das vereinfacht die Weiterbildung der Mitarbeitenden für einen agilen Change-Prozess und macht es möglich, viele Mitarbeitende in die gewünschte Wertebereiche zu entwickeln. Diese Aussage gilt aber nicht für das Scrum-Master-Profil (siehe Abbildung 3). Hier liegen die Werte mehrheitlich zwischen Stufe 6 (sehr überdurchschnittlich) und 7 (extrem überdurchschnittlich). Diese Werte sind realistisch betrachtet nicht für alle Menschen erreichbar. Deswegen sollten Scrum Master gezielt mit Blick auf ihr Potenzial für die Dimensionen in Abbildung 3 ausgesucht und dann erst geschult werden. Auch muss die Scrum-Master-Ausbildung deutlich intensiver und länger ausfallen als die Vorbereitung der Teammitglieder.

Falls ein ganzes Team von der traditionellen in die agile Projektarbeit überführt werden soll, kann das agile Profil als Grundlage für die Teamentwicklung genutzt werden. Die in Abbildung 1 (Agiles Profil) dargestellten Kompetenzprofile können in einem Change-Prozess aber auch zur Auswahl und zur Zuordnung von Mitarbeitenden zu den verschiedenen Teamarbeitsformen dienen. Werden Mitarbeitende für die agile Projektarbeit gesucht, dann sollte zum Beispiel eher auf die Nutzerorientierung geachtet werden, während beim traditionellen Projektmanagement stärker das Zeitmanagement im Auswahlprozess geprüft werden sollte.

 

Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass Organisationsentwicklung nicht nur über die Veränderungen von Strukturen stattfinden kann, sondern vor allem auch über die Menschen, die in diesen Strukturen arbeiten müssen. Über die Auswahl und Entwicklung der Mitarbeitenden in relevanten Kompetenzen kann so die Grundlage für eine erfolgreiche Einführung von Agilität in Organisationen gelegt werden.